In der letzten Oktoberwoche fand bereits die 6. Session der Zwischenstaatlichen UN-Arbeitsgruppe zur Ausarbeitung des Abkommens zu Transnationalen Konzernen und Menschenrechten statt. Nicht nur die Corona-Pandemie setzte der Session zu, sondern auch das Versagen der westlichen Demokratien.
Am Ende der letztjährigen Session hatten insbesondere Brasilien und Russland «staatengeführte direkte inhaltliche Verhandlungen» über den Abkommenstext gefordert, was in die Empfehlungen des Vorsitzenden für die 6. Session aufgenommen wurde. Trotzdem fanden in dieser Session keine eigentlichen Verhandlungen über den Text statt, sondern grösstenteils nur – wie bis anhin – die Abgabe von Kommentaren und Fragen zu den einzelnen Artikeln. Wie sich am Ende der Session unter der Hand herausstellte, hatten ausgerechnet Brasilien und Russland, aber auch die EU und China, dem Vorsitzenden vor Sessionsbeginn mitgeteilt, dass sie nicht bereit seien, in konkrete textliche Verhandlungen einzutreten.
Trotzdem waren es dann gerade Russland, China und Brasilien, die während der ganzen Woche mit z.T. detailliert vorbereiteten Beiträgen darauf hinwirkten, das Abkommen in Frage zu stellen, die Rechte der Opfer zu vermindern, die Verpflichtungen der Staaten möglichst zu beschränken und Auswirkungen auf das eigene Rechtssystem abzuwehren – kurz: das Abkommen auszuhöhlen, zahnlos und wirkungslos zu machen. Bei Russland und China standen wohl die Vermeidung von «Einmischung» in innere Angelegenheiten und die Souveränität im Vordergrund, bei China wohl auch die Protegierung der staatseigenen Betriebe, die explizit in den Geltungsbereich des Abkommens aufgenommen worden waren.
Und was taten in dieser Situation die westlichen Demokratien? Nichts. Sie sahen regungslos zu, wie die Diktatur China und die Halbdemokratien Russland und Brasilien den Abkommesentwurf zu demontieren versuchten. Die EU beschränkte sich auf ein paar Kommentare und Anträge zur Klärung einzelner Artikel, nachdem sie es anscheinend den Mitgliedstaaten ein weiteres Mal nicht erlaubt hatte, sich zu äussern. Grossbritannien, nicht mehr an die EU gebunden, äusserte sich am ersten Verhandlungstag abschätzig zu Entwurf und Prozess. Immerhin waren folgende westeuropäische Staaten anwesend (vor Ort oder online): Belgien, Dänemark, Deutschland, Finnland, Frankreich, Griechenland, Grossbritannien, Niederlande, Österreich, Portugal, Schweden, Spanien – und die Schweiz. Ausser Frankreich, das ein weiteres Mal auf seine «loi de vigilance» hinwies, blieben alle EU-Staaten stumm. Besonders stossend war die passive Haltung der EU, die auch auf die Ausstellung eines Verhandlungsmandats verzichtet hatte, nachdem ihren langjährigen Einwänden gegen den Abkommensentwurf weitestgehend entsprochen wurde: Der Geltungsbereich wurde – in Abweichung zur Resolution 26/9, die das Mandat für den Prozess erteilte! – von den Transnationalen Konzernen auf alle Unternehmen ausgeweitet, und die Differenzen zu den UN-Leitprinzipien zu Wirtschaft und Menschenrechten (UNGPs) weitestgehend ausgeräumt. Es waren Staaten wie Ägypten, Namibia, Ecuador, Kuba, Mexiko, Panama, Philippinen, Palästina und der Vatikan, die fundierte Vorschläge für die Weiterentwicklung des Abkommens einbrachten.
Was tat die Schweiz? Sie verlas am ersten Tag eine «Allgemeine Erklärung», die in weiten Teilen den letztjährigen glich, und kündigte an, Klärungsfragen juristischer Art zu stellen. Immerhin bemerkte sie mit Interesse, dass durch den ganzen Text Begriffe und Konzepte der UNGPs aufgenommen wurden. Sie wies interessanterweise darauf hin, dass der Abkommenstext zwar die Sorgfaltsprüfung in den Geschäftsbeziehungen behandle, die globalen Lieferketten und ihre Implikationen für die Menschenrechte jedoch bloss auf eine indirekte und breit auslegbare Weise. Dies sei angesichts entsprechender legislativer Entwicklungen erstaunlich, und es wäre wünschenswert, dieses Thema während der Session zu klären. Leider verzichtete die Schweiz dann darauf, sich ein weiteres Mal zu äussern und insbesondere selbst zur gewünschten Klärung beizutragen. Dies, da der Vorsitzende konkrete Kommentare gewünscht und auch die Fragen der EU nicht wirklich beantwortet habe. Damit äusserte sich die Schweiz so wenig wie während der ersten Sessionen, nachdem sie letztes Jahr doch mehrere Interventionen gemacht hatte.
Wie reagierte die internationale Zivilgesellschaft auf die Unterdrückung eigentlicher Verhandlungen durch die EU und einige mächtige Staaten sowie auf das Schweigen der westlichen Staaten und insbesondere der EU? Die «Global Campaign to Reclaim Peoples Sovereignty, Dismantle Corporate Power and Stop Impunity» (Global Campaign), der auch FIAN angehört, verlangte in ihrer Schlusserklärung, «es ist Zeit sicherzustellen, dass diese Verhandlungen zu einem von den Staaten vorangetriebenen Prozess werden […]». Insbesondere die europäische Zivilgesellschaft erklärte in einem starken Video: «Auch im sechsten Jahr ist die EU noch immer nicht am Tisch. Dies, obwohl 847’000 europäische Bürger*innen die EU zu einer Teilnahme an den Verhandlungen aufgerufen und 75 Mitglieder des Europäischen Parlaments ein Verhandlungsmandat und die Teilnahme verlangt hatten. Die EU sagt, der Abkommenstext brauche Verbesserungen, aber weigert sich, über den Text zu verhandeln, um die notwendigen Verbesserungen zu machen. Zur gleichen Zeit macht die EU das äusserste, um die Privilegien der Unternehmen und Investoren in anderen UN-Foren zu stärken. Genau so sieht fehlender politischer Wille aus.»
Immerhin erreichte Panama kurz vor Schluss der Session, dass die Weiterentwicklung des vorliegenden Abkommensentwurfs nun auf transparente Weise geschehen wird: Das Sekretariat der Arbeitsgruppe wird den Text in zwei je zweispaltigen Tabellen zirkulieren lassen, in die die Staaten und zivilgesellschaftlichen Organisationen zu den einzelnen Artikeln konkrete Änderungsvorschläge bzw. Kommentare und Fragen eintragen können – sowohl solche, die sie an der 6. Session vorgebracht hatten, als auch neue. Die Global Campaign begrüsste dieses Vorgehen ausdrücklich in ihrer Schlusserklärung.
Für die Schweiz rächt es sich nun, dass der Bundesrat noch mit Didier Burkhalter als menschenrechtsfreundlichem Aussenminister kein Mandat für die Verhandlungsteilnahme erteilt hatte. Der Aussenminister erachtete die Ausarbeitung eines Abkommens als verfrüht und legte das Gewicht voll auf die Umsetzung der unverbindlichen UN-Leitprinzipien. Bis heute hat der Bundesrat nicht erkannt, dass das Abkommen den notwendigen verbindlichen Rahmen für die Leitprinzipien schaffen und damit ihre Umsetzung entscheidend unterstützen würde. Er hat bei der Ablehnung der Konzernverantwortungsinitiative u.a. mit der Begründung, dass er auf ein international breit abgestütztes Vorgehen setze, auch nicht erkannt, dass das Abkommen genau diese internationale Einheitlichkeit garantieren würde. Ohne Verhandlungsmandat ist die Schweizer Delegation bei der UNO in Genf paralysiert und kann nichts mehr als Klärungsfragen stellen, so sie denn wirklich will. Die Schweiz überlässt es lateinamerikanischen, afrikanischen und asiatischen Staaten, sich für die Ausarbeitung eines guten Abkommens einzusetzen und den desaströsen Bemühungen Russlands, Chinas und Brasiliens entgegenzuhalten.
Will die Schweiz ihrer völkerrechtlichen Verpflichtung nachkommen, die Menschenrechte (auch im Ausland) zu schützen, muss sich diese Situation radikal ändern. Will die Schweiz, wie dauernd dargelegt, wirklich den UNGPs zum Erfolg verhelfen, muss sie mit dem von den UNGPs vorgesehenen «smart mix» von unverbindlichen und verbindlichen, nationalen und internationale Massnahmen endlich Ernst machen. Das Abkommen übernimmt die verbindliche und internationale Dimension des «smart mix». Ohne verbindlichen Rahmen und internationale Zusammenarbeit bei Strafverfolgung und Wiedergutmachung bleibt die Wirkung der auf Freiwilligkeit angelegten UNGPs sehr beschränkt. Es reicht nicht, wie in der «Allgemeinen Erklärung» zu Beginn der Session dargelegt, mit den in Risikokontext operierenden Unternehmen einen «engen Dialog» aufrechtzuerhalten. Staatsaufgabe ist nicht Dialogführung, sondern Regulierung und, bei Zuwiderhandlung, Sanktionierung und Wiedergutmachung für die Opfer.
Nach der Abstimmung über die Konzernverantwortungsinitiative wird die verfassungsrechtliche Grundlage bezüglich Wirtschaft und Menschenrechten endlich wieder einmal geklärt sein. Auf dieser Grundlage wird FIAN Schweiz zusammen mit andern Organisationen umgehend intensive und breit abgestützte Bemühungen aufnehmen, damit der Bundesrat ein – angesichts der laufenden internationalen Entwicklungen auch flexibles – Verhandlungsmandat erteilt. Unseren Partnerorganisationen in der EU wünschen wir viel Erfolg bei den gleichzeitigen Bemühungen, der EU-Kommission endlich ein Verhandlungsmandat abzuringen.