Freiwillige Leitlinien für das Recht auf Nahrung

Inhalt
Entstehung
Status
Wirkung
Herausforderungen und Zukunft
Bedeutung für die Schweiz und den globalen Norden
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Die «Freiwilligen Leitlinien zur Unterstützung der schrittweisen Verwirklichung des Rechtes auf angemessene Nahrung im Rahmen der nationalen Ernährungssicherheit», wie sie mit vollem Namen heissen, stellen primär den Staaten ein umfassendes und gesamtheitliches System an Massnahmen zur Verwirklichung des Rechts auf Nahrung zur Verfügung.

19 ausführliche Leitlinien und ein angehängter Teil behandeln gute Regierungsführung und Rechtsstaatlichkeit, wirtschaftliche Entwicklung, Strategien, Marktsysteme, Institutionen, beteiligte Akteure, rechtliche Rahmenbedingungen, Zugang zu Ressourcen (Arbeit, Land, Wasser, Saatgut, Kapital u.a.), Lebensmittelsicherheit, Ernährung, Bildung, Finanzen, Unterstützung gefährdeter Gruppen, soziale Sicherheitsnetze, Nahrungsmittelhilfe, Katastrophen, Monitoring sowie internationale Massnahmen, Aktionen und Verpflichtungen.

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Entstehung

Die Leitlinien gehen zurück auf eine Forderung von FIAN International, einen Verhaltenskodex zum Menschenrecht auf angemessene Nahrung zu erarbeiten. Ein 1997 mit Partner-Organisationen ausgearbeiteter Entwurf formulierte die menschenrechtlichen Verpflichtungen der Staaten.

Auf dem Welternährungsgipfel 2002 ersuchten die Staats- und Regierungschefs den Rat der FAO (Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der UNO), eine zwischenstaatliche Arbeitsgruppe mit folgendem Mandat einzurichten: «innerhalb von zwei Jahren unter Beteiligung der Akteure einen Katalog Freiwilliger Leitlinien zu erstellen, um die Anstrengungen der Mitgliedstaaten zu unterstützen, das Recht auf angemessene Nahrung im Rahmen der nationalen Ernährungssicherheit schrittweise zu realisieren.»

In einem zweijährigen Prozess handelten die FAO-Mitgliedstaaten, zu denen nahezu alle Staaten der Welt zählen, den Entwurf der Leitlinien unter intensiver Beteiligung zivilgesellschaftlicher Organisationen – insbesondere auch FIAN – aus. Im November 2004 nahm der FAO-Rat den Text einstimmig an.

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Status

Die Leitlinien sind zwar nicht-bindend und gehören somit zum «soft law», doch verleihen ihnen die einstimmige Verabschiedung durch alle FAO-Mitgliedstaaten und die Beteiligung zivilgesellschaftlicher Organisationen bei der Ausarbeitung eine hohe Legitimität und Verbindlichkeit. Regierungen können die Leitlinien, ihre Anforderungen und Inhalte nicht einfach ignorieren. Wenn genügend politischer Wille und Macht dahinterstehen oder eine starke Zivilgesellschaft die Umsetzung einfordert, können auch nicht-bindende Instrumente eine starke Wirkung entfalten oder sogar bindend werden.
Wegen der Opposition mächtiger Staaten wurde als Folgemechanismus jedoch bloss die schwächstmögliche Form der freiwilligen Berichterstattung an den Ausschuss für Welternährungssicherheit (CFS) gewählt und kein effektiver Monitoring-Mechanismus innerhalb der FAO eingerichtet.

Mit ihrem umfassenden, ganzheitlichen Ansatz gehören die Leitlinien zu den wichtigsten Instrumenten für die Verwirklichung des Rechts auf Nahrung. Sie stellen zudem die erste internationale Übereinkunft darüber dar, wie wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte auf nationaler Ebene umzusetzen sind.

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Wirkung

In ihrem Bestehen seit 2004 haben die Leitlinien eine beachtliche – allerdings noch ausbaufähige – Wirkung auf verschiedensten Ebenen entfaltet:

  • Auf globaler Ebene dienen sie der FAO – insbesondere dem Right to Food Team und den Regionalbüros – bei der Beratung von Regierungen. Die Umsetzung der Leitlinien wurde in das Vision Statement des CFS aufgenommen. Für die Ausarbeitung zentraler Dokumente wie z.B. des Global Strategic Framework for Food Security and Nutrition (GSF) im Rahmen des CFS und des Comprehensive Framework for Action (CFA) im weiteren Rahmen der UNO bieten die Leitlinien einen grundlegenden und wertvollen Referenzrahmen. Internationale zivilgesellschaftliche Organisationen stützen sich in ihrer politischen Arbeit und rechtlichen Argumentation auf die Leitlinien ab.
  • Auf nationaler Ebene bieten die Leitlinien ebenso wertvolle Grundlagen und Referenzrahmen. In verschiedenen Ländern wurden und werden sie – z.T. sehr direkt – in Rahmengesetze, in nationale Strategien und Aktionspläne und in Verfassungsartikel umgesetzt, und Gerichte verwenden sie in der Rechtssprechung. Zivilgesellschaftliche Organisationen und soziale Bewegungen setzen sie in ihrer politischen Arbeit und rechtlichen Argumentation ein. Insbesondere können sie als Monitoring-Werkzeug zur Überwachung und Beurteilung des staatlichen Handelns eingesetzt werden.

Die Leitlinien haben die Voraussetzungen für einen globalen Diskurs über die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte geschaffen, der die Staaten von einem wohltätigen Ansatz weg zu einem menschenrechtsbasierten Ansatz geführt hat. Sie trugen dazu bei, die Sichtbarkeit und das Verständnis von Ernährung als ein Menschenrecht auf globaler Ebene zu stärken sowie das Verständnis der menschenrechtlichen Verpflichtungen der Staaten, der Rolle der Rechtsträger und der Notwendigkeit eines gesamtheitlichen Umgangs mit Ernährungssystemen zu fördern.

Einen Schatten wirft die Tatsache, dass viele Länder die Leitlinien immer noch nicht umsetzen, und dass in manchen Ländern die Umsetzung mangelhaft geschieht, z.B. ohne unabhängiges Monitoring oder ohne Sanktionsmechanismen. Kaum wirksam wurde insbesondere die internationale Dimension. Die entsprechenden Massnahmen konnten wegen des Widerstands verschiedener Staaten nicht als eigentliche Leitlinien, sondern nur als separater Teil in das Dokument aufgenommen werden. Dafür wurden die internationalen menschenrechtlichen Verpflichtungen der Staaten auf einer allgemeineren und rein zivilgesellschaftlichen Schiene weiter konkretisiert: im Rahmen der Maastrichter Prinzipien zu den Extraterritorialen Staatenpflichten im Bereich der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte.

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Herausforderungen und Zukunft

Die Leitlinien sind auch nach 10 Jahren immer noch vollständig gültig und relevant, und sie sollten in den kommenden Jahren eine noch grössere Rolle spielen.

Die Wirkungen der Leitlinien könnten verstärkt werden, wenn z.B. der Folgemechanismus (Überwachung ihrer Umsetzung) gestärkt wird. Die FAO sollte von der Erhebung des Status der Ernährungs-Unsicherheit in der Welt (State of Food Insecurity in the World) zur Überwachung der fortschreitenden Umsetzung des Rechts auf Nahrung auf der Grundlage der Leitlinien übergehen.

Die Leitlinien deuten die gesellschaftliche, politische und rechtliche Diskriminierung von Frauen und Mädchen zwar an, stellen sie aber nicht deutlich genug als eine strukturelle Ursache des Hungers dar. Die Leitlinien müssten der Beseitigung der vielfältigen Formen von Diskriminierung und der spezifischen Berücksichtigung von Frauen und Mädchen bei Strategien und Massnahmen zur Verwirklichung des Rechts auf Nahrung stärker Rechnung tragen.

Eine schwere Gefährdung erfährt die Umsetzung der Leitlinien durch mächtige wirtschaftliche Interessen, die sich auf globaler und nationaler Ebene systematisch den Bemühungen entgegenstellen, in Politik und Wirtschaft die Kohärenz mit den Menschenrechten und die Rechenschaftsablage zu fördern.

Die grössten Herausforderungen werden sein, auf der Basis der Leitlinien auf globaler und nationaler Ebene die Kohärenz aller relevanten Politikfelder (einschliesslich Handel und Investitionen, Landwirtschaft, Gesundheit, Umwelt, Ressourcen) mit dem Recht auf Nahrung zu erreichen, die weltweite Demokratisierung der Landwirtschafts- und Ernährungssysteme insbesondere unter Beteiligung der von Hunger und Mangelernährung Betroffenen voranzutreiben, entsprechend einem holistischen (ganzheitlichen) Ansatz.

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Bedeutung für die Schweiz und den globalen Norden

Die Leitlinien wurden hauptsächlich als Werkzeugkasten für die Länder des Globalen Südens ausgesarbeitet, um Hunger, Unter- und Mangelernährung zu überwinden. Überraschenderweise zeigt sich nun, dass mit der Globalisierung verschiedener Probleme die Leitlinien auch für die Länder des Nordens aktuell und wichtig werden: zunehmendes Land Grabbing und Landkonzentration mit Rückgang bäuerlicher Familienbetriebe in verschiedenen Ländern Europas, Industrialisierung der Landwirtschaft (auch für den Anbau von Kulturen zur energetischen Verwertung) mit Umweltschäden, Patentierung von Pflanzensorten und industriefreundliche Regulierung von Saatgutproduktion und –vermarktung, ungesunde Ernährung aufgrund von Verarmung (working poor u.a.), aggressiver Werbung der Lebensmittelindustrie und mangelnder Ernährungsbildung – diesen zunehmenden Tendenzen gilt es, u.a. mit Hilfe der Leitlinien zu begegnen.

Die Schweiz ist von diesen Entwicklungen, abgesehen von ungesunder Ernährung, dank eines starken bäuerlichen Bodenrechts und einer moderaten Saatgutregulierung bisher weitgehend verschont geblieben. Diese Errungenschaften gilt es zu verteidigen und – z.B. bei der Saatgutregulierung – zu verbessern. Die Leitlinien bieten jedoch für die schweizerische Politik andere Grundlagen: Sie zeigen auf, in welche Richtungen die Schweiz im Interesse des Rechts auf Nahrung in internationalen Gremien hinarbeiten soll, welche Positionen sie vertreten soll. Dies gilt z.B. für die Vertretungen im UN-Menschenrechtsrat (in Zeiten der Mitgliedschaft), bei der Weltbank, bei regionalen Entwicklungsbanken, bei der WTO, bei der FAO u.a. Die aufgrund der Leitlinien zu verfolgenden Positionen und Stossrichtungen sind u.a.: Unterstützung der mittelständischen und kleingewerblichen Landwirtschaft, Fischerei und Waldwirtschaft; Förderung kleiner lokaler und regionaler Märkte; Verbesserung und Schutz des Zugangs zu Ressourcen wie Land, Wasser, Saatgut, Fischgründen, Wald, angepasste Technologie und Finanzmitteln; Fokussierung auf gefährdete Gruppen wie Arme, Frauen, indigene Gemeinschaften und Nomaden; Fokussierung auf die Grundnahrungsmittelproduktion; Schaffung und Schutz angemessener Arbeitsbedingungen und Entlöhnung für ArbeitnehmerInnen auf dem Land und in Städten; Schutz der Ökosysteme und der Nachhaltigkeit; Förderung der Dienstleistungen für die kleinbäuerliche Landwirtschaft (Leitlinien 2.6, 3.7, 4.5 und 8).

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Dokumente

pdficon_smallFreiwillige Leitlinien für das Recht auf Nahrung (deutsch, offizielle Übersetzung)

pdficon_smallFreiwillige Leitlinien für das Recht auf Nahrung (deutsch, leicht bearbeitete Übersetzung von FIAN Schweiz)

pdficon_smallVoluntary Guidelines to support the progressive realization of the right to adequate food in the context of national food security (englisches Original)

Civil Society Report on the use and implementation of the Right to Food Guidelines, CSIPM, 2018

pdficon_smallHandbuch «How to Use the Voluntary Guidelines on the Right to Food» für soziale Bewegungen und nichtstaatliche Organisationen, von FIAN International, 2007

pdficon_smallHandbuch «Screen state action against hunger! How to use the Voluntary Guidelines on the Right to Food to monitor public policies» von FIAN International und der Welthungerhilfe, 2007

Fifteen years implementing the Right to Food Guidelines. Reviewing progress to achieve the 2030 Agenda der FAO, 2021

pdficon_small10 Years of the Right to Adequate Food Guidelines: Progress, Obstacles and the Way Ahead. Civil Society Synthesis Paper for the 41st Session of the UN Committee on World Food Security, 2014

pdficon_smallSynthesebericht «The Right to Food: Past commitment, current obligation, further action for the future. A Ten-Year Retrospective on the Right to Food Guidelines» des Right to Food Teams der FAO, 2014

icon-powerpoint-2003Präsentation «Die Freiwilligen Leitlinien und die Schweiz» (2014, 20 Powerpoint-Folien, für die Veranstaltung «Das Recht auf Nahrung, Land Grabbing und die Schweiz» an der Universität Zürich)

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