FIAN Schweiz hat sich mit den Auswirkungen der Corona-Krise auf das Recht auf Nahrung befasst und kommt zum Schluss: Es braucht für dessen Krisenfestigkeit eine dreigliedrige Antwort in Landwirtschaft, Sozialsystemen und Klimaschutz.
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Ernährung und Landwirtschaft: Krisentauglich?
Die Corona-Krise hat schlagartig die zentrale Bedeutung der Nahrung und der Landwirtschaft in den Fokus gerückt: Kaum hatte der Bundesrat die ersten einschneidenden Massnahmen ergriffen, setzten Hamsterkäufe ein, die Regale leerfegten. Offenbar hatten viele Leute nicht genügend Vertrauen in unsere Lebensmittelversorgung – vielleicht auch, weil die Schweiz sich unter den gegenwärtigen Ernährungsgewohnheiten und der entsprechenden landwirtschaftlichen Produktionsstruktur nur zu 50 – 60 % selbst versorgt? Dafür erfahren Hofläden einen grossen Zulauf: Offensichtlich suchen viele Leute wieder die Nähe zur Landwirtschaft, wollen sich der lokalen Versorgungssicherheit vergewissern, und misstrauen dem industriellen, globalisierten Landwirtschafts- und Ernährungssystem.
Der im Vergleich zu Nachbarländern tiefe Selbstversorgungsgrad der Schweiz liegt u.a. daran, dass viele ackerbaufähige Flächen für die Milch- und Fleischerzeugung genutzt werden und damit nicht für die pflanzliche Produktion zur Verfügung stehen.
Die Nahrungsmittel-Grundversorgung in der Schweiz ist dank der Pflichtlager für einige Monate gesichert. Dass der Nachschub aus dem Ausland allenfalls auch mal schwierig werden kann, zeigen die Exportbeschränkungen und -verbote, die Staaten wie Kasachstan, Russland und die Ukraine für Weizen sowie Vietnam und Kambodscha für Reis erlassen haben. Dies trifft Länder im globalen Süden in viel höherem Masse, die stark auf Nahrungsmittelimporte angewiesen sind – unter anderem solche, deren Landwirtschaft durch die aggressive landwirtschaftliche Exportpolitik der USA und der EU geschädigt worden sind.
Die Krise legt Ängste und Schwachstellen, aber auch Sicherheitsbedürfnisse und Chancen offen. Und sie stellt die Frage: Wie sehr sind unsere Ernährung und Landwirtschaft krisentauglich?
Die «Unsichtbaren»: Rechte auf Nahrung, Obdach und Gesundheit sind noch mehr bedroht
In unserer Gesellschaft leben schätzungsweise über 100’000 «unsichtbare» Personen unter prekären Verhältnissen: Die Sans-Papiers, die schlecht bezahlten Arbeiten nachgehen und in ständiger Angst vor Entdeckung und Ausweisung leben. Wegen ihres illegalen Status verfügen sie über keinerlei soziale Sicherheiten und können keine Sozialhilfe beantragen. Mit der Corona-Krise haben viele auf einen Schlag Arbeit und Einkommen verloren, womit die tägliche Lebensmittelversorgung, der weitere Grundbedarf, die Zahlung der Miete und die Gesundheitsversorgung akut gefährdet sind – und damit sind Menschenrechte bedroht, auf die sie unabdingbaren Anspruch haben: Die Rechte auf Nahrung, auf Obdach, auf Gesundheit und mehr.
Ihre Rechte auf soziale Sicherheit, auf (geregelte) Arbeit und Einkommen sind nur schon in normalen Zeiten nicht gewährleistet – in Krisenzeiten sind dann auch die die davon abhängigen Grundrechte wie diejenigen auf Nahrung, Obdach und Gesundheit bedroht.
Neben den Sans-Papiers sind weitere Bevölkerungsgruppen gegenüber Krisen verwundbarer als der Durchschnitt: Für FIAN Schweiz durchgeführte Studien in Basel und Genf haben insbesondere Obdachlose, Asylbewerbende, Working Poor, Alleinerziehende, Arbeitslose und Personen mit gesundheitlichen Problemen identifiziert, dazu kommen noch Sexarbeiterinnen und Drogenabhängige. Diese marginalisierten Bevölkerungsgruppen konnten vor der Corona-Krise ihren Lebensmittelbedarf behelfsmässig an den Essensausgaben karitativer Organisationen decken. Doch diese haben ihre Arbeit teilweise oder ganz eingestellt. Andere Organisationen haben darauf reagiert, indem sie z.B. Geld sammeln und damit Lebensmittelgutscheine ausgeben. Auch hier zeigt sich: Krisen treffen die Schwächsten am stärksten. Abgesehen davon, dass sie nur teilweise krisenresistent sind, stellen karitative Essensabgaben ohnehin nur eine Behelfsmassnahme dar: Sie können nur das Symptom und nicht die zugrundeliegende Armut bekämpfen, und sie stellen für die Betroffenen eine unwürdige Form des Lebensmittelerwerbs dar.
Es ist klar, dass die Schweiz die sozial Schwachen unbedingt besser stellen muss: So forderte der UN-Wirtschafts- und Sozialausschuss nach der Überprüfung der Schweiz Ende 2019, dass die Schweiz «in Konsultation mit den Sozialpartnern einen Minimallohn einführt, der auf einem angemessenen Niveau festgesetzt und regelmässig indexiert wird, um allen Arbeitnehmenden einen angemessenen Lebensstandard zu erlauben» und «weitere Schritte unternimmt, um sicherzustellen, dass Hausangestellte dieselben Bedingungen wie andere Arbeitnehmende bezüglich Entlöhnung […] und Schutz vor ungerechtfertigter Entlassung geniessen». Und weiter solle die Schweiz «eine nationale Strategie zur Verhinderung und Bekämpfung von Armut verabschieden», die «auf die am meisten betroffenen Individuen und Gruppen fokussiert».
Die Krise legte eine weitere Schwachstelle unserer Landwirtschaft offen: Mit der Schliessung der Grenzen können die Tausenden von Wanderarbeiter*innen aus Osteuropa nicht mehr als Erntehelfer*innen einreisen, die alljährlich im Frühling für die Spargelernte und den Gemüseanbau benötigt werden. Glücklicherweise stellen sich genügend Freiwillige zur Verfügung, um in die Lücke zu springen. Auch zu dieser Thematik hat der UN-Wirtschafts- und Sozialausschuss eine Empfehlung an die Schweiz gerichtet, nämlich «die Internationale Konvention zum Schutz der Rechte aller Wanderarbeitnehmer und ihrer Familienangehörigen zu ratifizieren». Diese Konvention betrifft auch die Rechte der Sans-Papiers, die sich als Arbeitsmigrant*innen in der Schweiz aufhalten.
Schliessung der Bauernmärkte – ein Schuss hinten hinaus?
Als kontraproduktiv – sowohl für Konsument*innen als auch für Produzent*innen – erwies sich die Schliessung der Märkte durch die bundesrätliche Notverordnung. Auf der einen Seite verliert die Bevölkerung einen direkten Zugang zu frischer, lokal und zumeist biologisch produzierter, hochwertiger Nahrung. Auf der andern Seite verlieren Landwirt*innen einen wichtigen Absatzkanal, der zu einem ausreichenden Einkommen beiträgt. Soweit sie nicht alternative Absatzmöglichkeiten finden oder die Produkte einlagern können, droht die Vernichtung der Erzeugnisse.
Auch wenn der Bundesrat im Interesse der Gesundheit diese Massnahmen verfügte, liessen sich Märkte ebenso sicher wie Lebensmittelgeschäfte betreiben. Die Einhaltung der Hygiene- und Abstandsvorschriften könnte sogar noch einfacher sein. Allenfalls sind zu deren Überwachung Freiwillige aus der Bevölkerung oder Zivildienstleistende erforderlich. Das Verbot der Märkte führt zur Bevorzugung der Supermärkte, der Geschäfte und des online-Handels. Bauernbetriebe sollen im Interesse der Ernährungssicherheit nicht durch eine undurchdachte Massnahme beeinträchtigt werden. Glücklicherweise erlauben erste Städte demnächst wieder die Abhaltung von Märkten unter strengen Auflagen. Doch das Marktverbot muss in der ganzen Schweiz, verbunden mit den erforderlichen Sicherheitsauflagen, aufgehoben werden.
Ein Glücksfall fürs Klima – und damit für das Recht auf Nahrung?
Die Corona-Krise reduziert den Treibhausgasausstoss erheblich und ist damit für das Klima ein Glücksfall – zumindest kurzfristig. Der Klimawandel beeinträchtigt mit den häufigeren und stärkeren Extremereignissen wie Dürren und Überschwemmungen die Landwirtschaft und damit die Nahrungsmittelversorgung – massiv im globalen Süden, aber auch schon spürbar in der Schweiz. Die Corona-Krise zeigt, dass der Mensch die Klimazerstörung mit massiven Massnahmen tatsächlich abschwächen kann: Mit weniger (unnötiger) Industrieproduktion, mit weniger globalen Transporten und Verkehr. Letzteres würde auch die Verschleppung von landwirtschaftlichen Schädlingen und von Krankheitserregern für die Menschen vermindern.
Bezogen auf die Landwirtschaft heisst dies: Abwendung von der industriellen und exportorientierten Landwirtschaft mit hohem Einsatz von industriellen Inputs (Kunstdünger, Pestizide, patentiertes Saatgut, Mechanisierung) und weltweiten Transport-, Verarbeitungs- und Vermarktungsketten. Weltweite Förderung der ökologischen Familienlandwirtschaft, die für die lokalen Märkte produziert, und mit ihrer Unabhängigkeit von internationalen Märkten und Lieferungen krisenresistenter ist.
Im Inland kann der Bund Anstrengungen unternehmen, wie sie die Initiative für Ernährungssouveränität vorzeichnete. Und in internationalen Finanzinstitutionen wie der Weltbank oder den Regionalen Entwicklungsbanken müsste er sich als Geldgeber entschieden dafür einsetzen, dass statt Projekten der industriellen Landwirtschaft Programme zur Förderung der ökologischen Familienlandwirtschaft finanziert werden.
Allgemein muss die Schweiz ihre Anstrengungen zur Minderung der Klimazerstörung intensivieren. So forderte der UN-Wirtschafts- und Sozialausschuss, «dass die Schweiz ihre Anstrengungen zur Erreichung der Treibhausgasemissions-Reduktionsziele für 2020 intensiviert und das Ziel für 2030 so anhebt, dass es mit der Verpflichtung zur Begrenzung des Temperaturanstiegs auf 1.5 ° übereinstimmt.» Mehr Klimaresistenz heisst mehr Krisenresistenz.
Eine neue Welternährungskrise?
Laut der Expertengruppe des UN-Welternährungsrats Committee on World Food Security (CFS) gibt es deutliche Anzeichen dafür, dass sich die Corona-Pandemie zu einer Welternährungskrise ausweitet. Schon jetzt sind arme Bevölkerungsgruppen besonders betroffen. Durch Schulschliessungen in aktuell 165 Ländern verlieren Hunderte Millionen Kinder den Zugang zu regelmässigen Schulmahlzeiten. Entlassungswellen sowohl im formellen Sektor – z.B. der Bekleidungsindustrie – als auch im informellen Sektor führen zu dramatischen Einkommensverlusten. Marktschliessungen verunmöglichen sowohl den Lebensmitteleinkauf wie den Absatz landwirtschaftlicher Produkte, was bereits zu Unruhen geführt hat. Ausgangssperren verunmöglichen es zahllosen Kleingewerbler*innen (Handwerker*innen, Strassenhändler*innen), ihr täglich bitter nötiges Einkommen zu erzielen. Aufgrund von Wassermangel und Wasserverschmutzung (beides von der industriellen Landwirtschaft mitverursacht) können breite Bevölkerungskreise die Hygienevorschriften nicht befolgen und ist ihr Immunsystem bereits geschwächt.
Im Hinblick auf kurzfristige Massnahmen ist die Schweiz aufgerufen, ebenso entschieden wie im Inland Milliarden für Soforthilfe im Ausland bereitzustellen. Schliesslich hat der globale Norden mit dem globalisierten Personenverkehr wesentlich zur weltweiten Verbreitung des Coronavirus beigetragen, der nun auch im globalen Süden die ärmeren Bevölkerungsschichten mit voller Wucht trifft.
Die Chancen der Krise
Die Corona-Krise legt viele Schwächen, Verletzlichkeiten und Ungerechtigkeiten in unserer Gesellschaft, Wirtschaft und Lebensweise brutal offen. Gleichzeitig lässt sie viele hoffnungsvolle Ideen, Ansätze und Initiativen entstehen – beides sind grosse Chancen.
Die Welt darf nach der Krise nicht zur bisherigen, oftmals ungerechten und zerstörerischen Realität zurückkehren. Alle – Staaten, Unternehmen, Organisationen und Individuen – müssen die Chance ergreifen, um die Welt gesunder und widerstandsfähiger, gerechter und gemeinschaftlicher zu machen. Und es ist Zeit, über radikal neue Ansätze nachzudenken: z.B. die Aufgabe des Wirtschaftswachstums als Dogma und die Anstrebung des Nullwachstum, oder die Ablösung des Bruttoinlandprodukts als Leitgrösse der Wirtschaftspolitik durch Kennzahlen zu Wohlergehen und Lebenszufriedenheit …
Unsere Ernährung und Landwirtschaft haben sich bis anhin zwar als krisentauglich erwiesen, aber die Auslandabhängigkeiten zeigen die Beschränkungen auf. Eindeutig zuwenig krisentauglich ist unser Sozialsystem für die Schwächsten, wo Private noch mehr Leistungen erbringen als zuvor.
Die Krisenfestigkeit des Rechts auf Nahrung erfordert eine dreigliedrige Antwort in Landwirtschaft, Sozialsystemen und Klimaschutz:
Lokalisierung von Landwirtschaft und Ernährung:
- die lokale Landwirtschaft unterstützen: Direktverkauf über Hofläden, Märkte, Gemüse-Abos bevorzugen (Konsument*innen) und im Sinne der Ernährungssouveränität fördern (Bund)
- weltweit die ökologische Familienlandwirtschaft auf breiter Basis fördern und (bi- und multilateral) keine Kredite mehr für die industrielle Landwirtschaft gewähren (Bund)
- den Selbstversorgungsgrad der Schweiz erhöhen durch Verminderung des Fleischkonsums (Viehhaltung auf den nur hierfür geeigneten Flächen für eine graslandbasierte Fleischproduktion) (Konsument*innen)
- bei einer nächsten Pandemie die Bauernmärkte, den Setzlings- und Saatgutverkauf den Geschäften gleichstellen (Bund)
Ausbau des Sozialsystems für die Schwächsten:
- die unbedingte Geltung der Menschenrechte auch für «Illegale» wie Sans-Papiers anerkennen (Bund)
- Sans-Papiers regularisieren (Bund), und zu Existenzlöhnen und mit Sozialversicherungen anstellen (private Arbeitgeber*innen und Kleinunternehmen)
- einen gesetzlichen Mindestlohn (Existenzlohn) einführen (Bund)
- für Hausangestellte dieselben Bedingungen bezüglich Entlöhnung und Schutz vor ungerechtfertigter Entlassung wie bei anderen Arbeitnehmenden einführen (Bund)
- eine nationale Strategie zur Verhinderung und Bekämpfung von Armut ausarbeiten und umsetzen (Bund)
- die Internationale Wanderarbeiter*innenkonvention ratifizieren (Bund)
Verminderung der Klimazerstörung:
- den globalen Handel durch vermehrte Nachfrage nach einheimischen Produkten (und die Bereitschaft, höhere Preise zu bezahlen) und durch Verzicht auf unnötigen Konsum vermindern (Konsument*innen)
- die berufliche und private Reisetätigkeit reduzieren (Unternehmen, Individuen)
- Anstrengungen zur Minderung der Klimazerstörung intensivieren (Bund)
Die nächste Pandemie kommt bestimmt – aber wir als Individuen und Gemeinschaften, die Staaten und die Wirtschaft können die Welt darauf hin fit machen!