UN-Ernährungssysteme-Gipfel: Wirtschaftsinteressen statt Recht auf Nahrung

Am 23. September hält die UNO nach zweijähriger Vorbereitung das Gipfeltreffen zu Ernährungssystemen (UNFSS) ab, einberufen vom UN-Generalsekretär. Ernährungssysteme umfassen alle Prozesse und Entscheidungsmechanismen dazu, wer Nahrungsmittel produziert, was angebaut und gezüchtet und für wen produziert wird, auf welche Art Landwirtschaft betrieben wird, unter welchen Umständen Bauern, Bäuerinnen, Landarbeiter*innen und Angestellte der ganzen Verarbeitungs- und Vermarktungsketten arbeiten und wieviel sie verdienen, was für Nahrungsmittel Konsument*innen erhalten und wieviel sie dafür bezahlen, wie die Landwirtschaft mit den natürlichen Ressourcen umgeht, was für Auswirkungen Landwirtschaft, Verarbeitung und Konsum auf Umwelt, Gesundheit und Klima haben.

Alle Menschen leben in einem bestimmten, oftmals weltumspannenden Ernährungssystem – damit sind wir alle vom Thema des Gipfeltreffens unmittelbar betroffen. Die Konferenz könnte viel zur Lösung der schwerwiegenden Probleme der Welternährung beitragen. Doch leider ist ab Beginn der Vorbereitungsarbeiten soviel falsch gelaufen, dass weite Teile der Zivilgesellschaft die Konferenz als illegitim und ihre erwarteten Resultate als kontroproduktiv betrachten:

  • Vom Agrobusiness gekapert: Kurz nachdem die UNO mit dem World Economic Forum WEF eine strategische Partnerschaft unterzeichnet hatte, wurde das Gipfeltreffen einberufen, damals mit dem WEF als Co-Organisator. Als Koordinatorin wurde gegen den Widerstand der Zivilgesellschaft Agnes Kalibata eingesetzt, frühere Präsidentin der Alliance for a Green Revolution in Africa AGRA, die eine hochindustrielle Landwirtschaft vorantreibt. Seither standen bei der Konzipierung und inhaltlichen Vorbereitung des Gipfels die Ansätze der industriellen Landwirtschaft und die Interessen der Agrokonzerne, wenn auch terminologisch geschickt kaschiert, im Vordergrund. Mächtige Staaten des globalen Nordens und UN-Offizielle duldeten oder unterstützten diesen Prozess.
  • Multistakeholderismus statt Multilateralismus: Gemäss dem Konzept des Multistakeholderismus können «alle» Stakeholder (Beteiligten) – Staaten, zivilgesellschaftliche Bewegungen und Organisationen, Wirtschaftsverbände, Konzerne – teilnehmen, ohne Differenzierung von Rechten, Rollen und Verantwortlichkeiten. Damit erhalten diejenigen Akteure den grössten Einfluss auf den Prozess, die die nötigen Ressourcen haben – eben gerade nicht die Organisationen der am meisten Betroffenen. Das in der UNO bewährte Konzept des Multilateralismus würde hingegen den Staaten die oberste Autorität für internationale Prozesse und Normen zuweisen und die angemessene Partizipation der Zivilgesellschaft sicherstellen.
  • Ohne ausreichende Partizipation der Betroffenen: Auf dieser Basis wurden die nationalen und internationalen Organisationen der Bauern und Bäuerinnen, Viehzüchter*innen, Fischer*innen, Indigenen, Landarbeiter*innen usw. marginalisiert und übergangen. Sie hatten kaum Einfluss auf den Vorbereitungsprozess und die inhaltliche Ausrichtung des Gipfels. Sogar der UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung wurde erheblich ausgegrenzt.
  • Auf technologische Lösungen und Produktionssteigerungen fixiert: Die vorgeschlagenen Stossrichtungen sind weiterhin technologiebasiert mit Hybridsaaten, Gentechnik, Agrochemikalien, Präzisionslandwirtschaft, Digitalisierung und Biotechnologie. Agroökologie (biologische Landwirtschaft), Familienlandwirtschaft für die lokale Versorgung und Wertschöpfung, Klimaschutz und Selbstbestimmung (Food Sovereignty) spielen kaum eine bis gar keine Rolle.
  • Wirtschaftsinteressen statt Menschenrechte: Wäre das Gipfeltreffen menschenrechtsbasiert, stünden diejenigen im Zentrum, deren Rechte am meisten verletzt werden und die am meisten unter dem gegenwärtig dominanten industriellen Ernährungssystem leiden: Die Bauern und Bäuerinnen, Viehzüchter*innen, Fischer*innen und Indigenen und die weitherum verarmten Bevölkerungskreise bzw. Konsument*innen, die sich nicht ausreichend gute Nahrung leisten können. Und ihre Lösungsansätze stünden im Zentrum – denn sie wissen sehr wohl und sehr genau, wie das Welternährungssystem transformiert werden müsste, damit es den Interessen der Menschen, der Umwelt und dem Klima dient.

Auf dieser unhaltbaren Basis wird das Gipfeltreffen

  • genau diejenigen Strategien, die zum Welthunger beitragen, unter dem Deckmantel neuer Begriffe als «Lösung» propagieren
  • Menschenrechte weiter durch Wirtschaftsinteressen ersetzen
  • die Macht der globalen Konzerne weiter stärken und ihnen noch mehr Mitsprache in der Welternährungspolitik einräumen – z.B. über die geplanten «coalition of actions»
  • die menschen- und umweltorientierten Ansätze für eine echte Transformation – Agrarökologie (biologische Landwirtschaft), Erhalt der natürlichen Ressourcen (Boden, Wasser, Biodiversität), Ernährungssouveränität, Klimaschutz – weiter ignorieren, ja ihnen entgegenarbeiten.

Weltweit haben sich Hunderte von zivilgesellschaftlichen Organisationen, UN-Experten – unter ihnen der Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung – und Akademiker*innen gegen Konzept und Stossrichtungen der Konferenz ausgesprochen und zeigten sich Staaten irritiert. Das Gefährliche am Gipfel ist der Versuch, die Weichen für die kommenden Jahrzehnte in der Ernährungspolitik zu stellen.

In Zukunft müssen Menschen, Menschenrechte, eine ökologische, soziale und klimagerechte Landwirtschaft und eine gesunde Ernährung im Zentrum stehen. Das setzt einen entschiedenen Einsatz aller Staaten gegen «corporate capture», die Vereinnahmung öffentlicher Institutionen und Prozesse durch Konzerne und ihre Verbände, voraus.

Weitere Informationen:

Q & A: (Almost) all you need to know about the UNFSS von FIAN International und A Growing Culture
The Corporate Capture of the UN Food Summit, Artikel von Sofia Monsalve, Generalsekretärin von FIAN International und Mitglied des International Panel of Experts on Sustainable Food Systems
Last chance to make the Food Systems Summit truly a “people’s summit”, Policy Brief von Michael Fakhri, UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung
Bericht zu Ernährungssystemen, Menschenrechten und UNFSS von Michael Fakhri, UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung
People’s Autonomous Response to the UN Food Systems Summit
► Kommentar Welternährungsgipfel: Konzerninteressen statt Recht auf Nahrung von Fastenopfer
United Nations‘ Food Systems Summit 2021